Kulturreise nach Chesterfield
Wir hatten mehr Glück als die Stuarts. Denn wir waren herzlich willkommen in Chesterfield und wurden von unseren englischen Freunden am späten Donnerstagnachmittag (06.09.) mit Wärme und unter großem Hallo in Empfang genommen. Und spürten dann täglich, dass sie keine Mühen scheuten, uns den Aufenthalt so interessant und angenehm wie möglich zu gestalten. An zwei Tagen wurden wir mit einem Vintage Bus (Jahrgang 1959!) in aller Gemütlichkeit durch die Lande kutschiert, am Freitag ( 07.09.) gar in fünf Privatwagen nach Matlock Bath und Cromford chauffiert. Alles war perfekt organisiert ...
... – bis hin zum großen Plastikbeutel, in dem Howard unendliche Mengen an Ein-Pfund-Münzen mitbrachte, um die äußerst gefräßigen Parkautomaten in Matlock füttern zu können.
Und die Stuarts? Die zwei Unbeliebtesten von ihnen hatten kein Glück in diesem Teil des Landes. Zwei exzellenten Führern gelang es, uns ihr Schicksal und die Zeit, in der sie lebten, auf sehr anschauliche Art nahe zu bringen. Am Samstag (08.09.) standen wir mit Chris Gale in Nottingham auf dem Standard Hill, wo König Charles I. am 22. August 1642 die Königliche Standarte aufpflanzte. Das galt seit alters her als Zeichen für die Herausforderung des Parlaments und markierte damit den Beginn des Bürgerkrieges.
Was war geschehen? Obwohl diese Ereignisse weit über 300 Jahre zurück liegen, wirken sie noch heute erschreckend aktuell. Charles hatte elf Jahre lang am Parlament vorbei regiert. Nun war er endgültig pleite und musste das Parlament einberufen, um es um Geld zu bitten. Das Parlament hatte dazu wenig Lust und wollte erst einmal mit Charles über die Sünden der Vergangenheit reden. Das wiederum passte dem König nicht, und so beschloss er, fünf der Wortführer aus dem House of Commons heraus zu verhaften. Das misslang gründlich, und Charles floh aus London. Nachdem er in Hull eine erste militärische Schlappe hinnehmen musste, zog er nach Nottingham, wo er sich relativ sicher fühlte, und forderte auf die genannte Art das Parlament heraus. Bekanntlich musste er das 1649 mit dem Leben bezahlen, und für England begann die Ära Cromwells.
Aber schon 1660 zog man es vor, die Monarchie zu restituieren, und unter der Herrschaft von Charles‘ Sohn, Charles II., erlebte das Land eine glückliche Zeit, die bis zu dessen Tod 1685 andauerte. Danach übernahm sein Bruder als James II. die Krone und brauchte drei Jahre, um sich so unbeliebt zu machen, dass man begann, im Hinterzimmer einer Straußwirtschaft über das nachzudenken, was als „Glorious Revolution“ in die Geschichte eingehen sollte. Am Dienstag (11.09.) empfing uns Peter, um zu erläutern, warum ausgerechnet hier ein entscheidendes Ereignis der britischen Geschichte seinen Ausgang nahm: Für ein konspiratives Treffen wählte man einen Ort, der einsam gelegen, für alle Verschwörer aber dennoch einigermaßen bequem zu erreichen war. So trafen sich der Earl of Devonshire, Lord Delamere, John D’Arcy und der Earl of Danby im Whittington Moor, drei Meilen nördlich von Chesterfield, als passierte, was passieren musste: Es fing an zu regnen. Die Herren beschlossen, ihre Gespräche im Trockenen fortzusetzen und fanden Zuflucht im „Cock & Pynot“. So wurde aus einer unscheinbaren Wirtschaft das „Revolution House“.
Am Freitag (07.09.) besuchten wir zwei Orte, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben schienen: Die Heights of Abraham bei Matlock und das etwas südlich davon gelegene Cromford, wo uns Peter South am Nachmittag höchst anschaulich die Prinzipien der Baumwollspinnerei demonstrierte und uns in Leben und Werk Richard Arkwrights einführte, dem es als erstem gelang, die Baumwollspinnerei zu industrialisieren - was ihn zum reichsten Nicht-Adeligen Englands machte! Er erfand eine funktionierende Spinnmaschine und erkannte das Potential der Wasserkraft für den Antrieb zahlreicher solcher gewissermaßen in Reihe geschalteten Maschinen. Die größte von mehreren Fabriken, die er zwischen 1771 und 1790 in Cromford am River Derwent errichtete, war immerhin sieben Stockwerke hoch. Als Lieferant der Wasserkraft war der Fluss allerdings aufgrund der jahreszeitlichen Schwankungen zu unzuverlässig. Dagegen lieferten die Entwässerungskanäle der nahe gelegenen Bleiminen gleichbleibend und ausreichend Wasser.
Eine dieser ehemaligen Bleiminen ist die Great Masson Cavern, die direkt unterhalb der Heights of Abraham liegt. Wir hatten sie bereits am Vormittag besichtigt und waren einigermaßen überrascht von dem, was wir dort über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergleute und ihrer Familien erfuhren. Natürlich war die Arbeit hart, aber sie war weitaus weniger gefährlich, als wir uns das vorgestellt hätten. Tödliche Unfälle waren ausgesprochen selten, und die Minenarbeiter erreichten ein für die damalige Zeit recht hohes Durchschnittsalter. Die wahren Leidtragenden waren die Frauen und Kinder. Ihre Aufgabe war das „dressing“, das Anreichern des bleihaltigen Erzes aus dem Fördergut, das dem eigentlichen Schmelzvorgang vorausging. Zunächst wurde begleitendes taubes Gestein entfernt, dann wurde das Erz – meist von Hand – zerkleinert und die so entstandenen erbsengroßen(!) Bruchstücke gewaschen und gesiebt, wie man das aus den Goldgräberfilmen kennt. Dabei atmeten die Frauen und Kinder so viel Bleistaub ein, dass die Sterblichkeit verheerend war. Die verwitweten Bergleute heirateten erneut, und das schreckliche Spiel wiederholte sich. Man schätzt, dass damals der „durchschnittliche“ Bergmann in seinem Leben fünfmal verheiratet war.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde der Import von Blei zunehmend wirtschaftlicher als der Abbau im eigenen Lande. So ging der Bleibergbau langsam, aber sicher seinem Ende entgegen. Und nur wenige Jahrzehnte später nahte auch das Ende der Baumwollspinnerei in Derbyshire, denn Wasserkraft als Energiequelle wurde zunehmend durch Wasserdampf ersetzt. Um den zu erzeugen, benötigte man große Mengen an Kohle. Also zog die Baumwollindustrie nach Lancashire – dort, wo es Kohle gab.
Richard Arkwright erlebte diese Umwälzungen nicht mehr. Er starb 1792. Geschäftlich glückte ihm offenbar alles, sein Privatleben war weniger glücklich. Seine erste Frau starb im Kindbett, seine zweite verließ ihn nach über zehnjähriger Ehe, da er nur mit seiner Arbeit verheiratet sei. Er arbeitete regelmäßig von morgens um Fünf bis abends um Neun.
Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ der Besuch des Cattle Market in Bakewell, der traditionell am Montag (10.09.) stattfindet. Wir hatten beschlossen, uns auf die Rinderauktion zu beschränken, da der Zugang zu den Schafen nur möglich ist, wenn man vorher durch ein Desinfektionsbad watet. Gummistiefel hatten wir aber nicht dabei. Die Auktion der Rinder unterliegt einem strikten Zeitplan. Das hatten wir nicht gewusst, und so gerieten wir zunächst in den traurigsten Abschnitt, in dem das Vieh versteigert wurde, das als zum menschlichen Verzehr nicht mehr geeignet galt. (Einer Google-Recherche zufolge betraf das zu BSE-Zeiten jedes Rind, das älter als 30 Monate war. Diese strikte Regelung ist wohl inzwischen aufgehoben worden, scheint aber immer noch eine Art unverbindlicher Leitlinie zu sein.) Das mitzuerleben war nicht immer ganz angenehm, und der Begriff Massentierhaltung erhielt angesichts der rasenden Geschwindigkeit, mit der die Tiere ihrem Schicksal überantwortet wurden, ein ganz anderes Gewicht. Fast makaber wirkte dabei die alte Sitte des „luck money“: Der Verkäufer hält während der Versteigerung seines Viehs einen Geldschein in die Höhe, der schließlich dem Meistbietenden übergeben wird. Er soll ihm Glück bringen mit seinem Kauf… Naja, warum soll es nicht auch glückliche Hundefutterproduzenten geben?
Wir gingen dann später noch in die Versteigerung jener Tiere, die zur Mast vorgesehen waren. Auch hier ließ sich der Eindruck des Massengeschäfts nicht abschütteln, aber diese Tiere wirkten sehr gepflegt und hatten ihr Leben noch vor sich. Hier – so schien uns – hatte das „luck money“ seinen Sinn.
Der Montagnachmittag war dagegen die reinste Erholung. Wir hatten viel Zeit, uns Haddon Hall anzuschauen. Das Haus selbst ist architektonisch sehr interessant, da es gewissermaßen unter einem Dach verschiedene Entwicklungsstufen eines adeligen Haushalts vom späten Mittelalter bis in die elisabethanische Zeit zeigt. Im Mittelalter spielte sich das gesamte Leben in der großen Halle ab. Privatleben gab es nicht. Das Einzige, das den Hausherrn und seine Familie von den anderen Mitgliedern des Haushaltes unterschied, war das kleine Podest am Kopfende der Halle, auf dem sie ihre Mahlzeiten einnahm. Am anderen Ende befanden sich drei Türen. Die mittlere stellte die Verbindung zur Küche dar, die – aus Brandschutzgründen – meist durch einen unüberdachten Hof von der Halle getrennt war. Die seitlichen Türen führten in den Bierkeller bzw. in den Vorratsraum. Als das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Abgrenzung größer wurde, kamen neben der Halle ein Aufenthaltsraum („parlour“) und das darüber liegende „Große Zimmer“ hinzu. Die „Long Gallery“ dagegen entspricht einer deutlich späteren Entwicklung. Sie kam im 16. Jahrhundert in Mode. Besonders beeindruckt hat uns der wunderschöne Garten, der sich vor der Südseite des Hause über mehrere Terrassen bis herab zum River Wye erstreckt.
Am Sonntag (09.09.) fuhr uns unser Vintage Bus nach Renishaw Hall. Wir wollten den dortigen Weingarten besichtigen und einige Erzeugnisse verkosten. Die Erläuterungen zum englischen Weinbau waren ganz aufschlussreich, aber dann wurde zur Gewissheit, was mancher wohl schon geahnt hatte: Zu diesem Weingarten gehört kein Keller, das Lesegut wird in ein ziemlich weit entferntes befreundetes Gut gefahren und dort im Lohnauftrag vinifiziert. Nun muss eine Weinprobe nicht unbedingt in einem Keller stattfinden, aber es hat schon seine Vorteile: Man kann dort sitzen, es gibt Gläser aus Glas, und der Wein ist angemessen temperiert. Nichts von dem hier: Wir standen in der prallen Mittagssonne und tranken den Wein und Sekt, der während der letzten Stunde im Halbschatten einer Rebe geruht hatte, aus winzigen Plastikgefäßen. In manchen Krankenhäusern werden die benutzt, um den Patienten flüssige Medikamente zu verabreichen.
Der Sonntagnachmittag gehörte dem Barrow Hill Round House, dem einzigen in Großbritannien noch existierenden Lokomotivschuppen mit integrierter Drehscheibe. Er wurde 1989 von einer Gruppe von Eisenbahnenthusiasten vor dem Abriss bewahrt, restauriert und ist heute so gut ausgestattet, dass dort Lokomotiv-Oldtimer anderer Gruppen, die nicht über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen, repariert und in Schuss gehalten werden können. Außerdem verfügt man über genügend Abstellgleise, um dort besonders wertvollen Exemplaren anderer Gruppen ein angemessenes Quartier zu bieten. Prunkstück ist eine Schnellzug-Dampflokomotive mit Namen „Blue Peter“, die von 1948 bis 1966 Dienst tat und danach noch bis 2002 im Rahmen von Sonderfahrten eingesetzt wurde. Uns diente sie als beeindruckende Kulisse für ein würdevolles Erinnerungsfoto.
Dass diesen in aller Kürze beschriebenen Tagewerken stets noch ein gemeinsames Abendessen mit unseren englischen Freunden folgte, versteht sich von selbst. Besonders hervorzuheben sind die Willkommensparty in der Eyre Chapel am 07.09, ein „formal dinner“ in der VIP-Lounge des Proact-Stadiums, der neuen Heimat des Chesterfield FC, am 09.09 und das Abschiedsessen in der Coco-Bar am 11.09. mit „British Tapas“ und Live-Musik. An den verbleibenden Abenden lernten wir noch etliche Pubs kennen. Der Berichterstatter, der außerhalb Darmstadts wohnt, denkt, dass er inzwischen mehr Kneipen in Chesterfield kennt als in Darmstadt.
Der Abschied am frühen Mittwochmorgen (12.09.) war natürlich bitter, wurde aber vielleicht etwas gemildert durch die Tatsache, dass noch niemand so richtig wach war…
Wir können zurückblicken auf eine interessante und anregende, sehr abwechslungsreiche Woche bei uns herzlich zugeneigten Freunden. Ein großes Dankeschön all denen auf beiden Seiten des Kanals, die sich bei der Vorbereitung und Durchführung engagiert haben! Und ein besonderer Dank an Ottilie, die mit mildem Nachdruck dafür gesorgt hat, dass wir immer pünktlich waren.
Text: Joachim Lüstorff
Fotos: Jürgen Sotscheck