Obwohl drei kluge Damen das Geschehen bei der Abendveranstaltung am 11. Oktober im Aka-Vortragsraum bestimmten, stand der Name Mustafa Kemal, genannt Atatürk, häufig im Mittelpunkt:
• Latife Hanim, die Ehefrau des „Vaters aller Türken,
• die Journalistin Ipek Calisar, ihre Biografin
• die Kursleiterin Barbara Wildenrotter

Männliche Staatenlenker gewinnen gelegentlich in ihrer präsidialen Rolle an Gewicht, wenn ihnen in ihrer Amtszeit eine tüchtige Frau zur Seite steht. Nicht selten wächst dann dem Präsidenten oder Regierungschef eine besondere Beliebtheit zu, die den verdienten positiven Anteil des Rums der First Lady verdrängt. Diese wiederkehrende Ungerechtigkeit treffen wir Anfang der 1920er Jahre auch in der Türkei an.

Mustafa Kemal, Atatürk genannt, hatte 1923 die Republik ausgerufen und suchte in Izmir, der mit 200.000 Einwohnern kulturell blühenden Hafenstadt, einen Regierungssitz. Man darf davon ausgehen, dass die kluge und vielseitig gebildete Latife Hamin, es zu steuern wusste, dass Kemal mit seinen Beratern in ihrem repräsentativen Elternhaus einzog. Latife war von Kind an eine auffallende Persönlichkeit. In der multireligiösen Oberstadt bekam in ihrem westlich orientierten 10-Kinder-Haushalt (nicht alle Kinder überlebten) jedes Kind zum 15. Geburtstag eine lebenslange Bedienstete. Daneben standen unterschiedliche Gouvernanten zur Verfügung, was der begabten ältesten Tochter das Erlernen von 5 Fremdsprachen ermöglichte. Durch Auslandsaufenthalte fielen ihr später noch weitere Sprachkenntnisse zu. Man bedenke den Status der jungen Frau, die angesichts hoher Analphabetenzahlen in der Türkei, zudem auch als Reiterin, Schützin und musikalisch hervortrat. Zeitweise lebte sie in Paris, wo sie eine emanzipierte, freie Lebensform vorgelebt bekam. Die Zusammenarbeit mit Mustafa Kemal war also nahe liegend. Sie schrieb seine Reden und Veröffentlichungen und er freute sich über die Zuarbeit einer so charmanten und weltgewandten Person.

Es bleibt unbeantwortet, ob die politische Übereinstimmung im Hinblick auf die Verbesserung der Stellung der Frau als Schlüssel nötig war, jedenfalls heiratet Kemal die junge Frau ohne viel traditionelles Zeremoniell. Im Beisein ihres Gatten zeigt sich Latife gern in der Öffentlichkeit europäisch gekleidet, ohne Schleier und sogar im Parlament, was Skandale und innenpolitische Spannungen auslöste. Durch diesen geräuschvollen und unvorstellbar steilen gesellschaftlichen Aufstieg beeinflusste Latife eine Reihe von Reformen, die Kemals Profil als den liberalen „Vater aller Türken“ beförderte. In den Jahren ab 1925 konnte Kemal z. B. das Hutgesetz (Fezgebot!), einen neuen Kalender, die lateinische Schrift (was eine Alphabetisierungswelle auslöste) sowie die Verlegung des Freitagsgebets auf Sonntag durchsetzen. Außerdem wurden Familiennamen verpflichtend. In dieser Zeit entstand eine Anti-Stimmung gegen Latife, die sich als Frauenrechtlerin engagierte.

Sensationsgleich wurde nach 2 ½ Jahren von der türkischen Öffentlichkeit die einseitig beschlossene Ehescheidung Kemals von der selbstbewussten und streitbaren Latife aufgenommen. Die Ehe blieb kinderlos. Latife hatte ihren Gatten gelegentlich überstrahlt, was in der türkischen Männergesellschaft zunehmend Widerstand auslöste. Nach Kemals Tod (1938) sollte Latife in der Öffentlichkeit schnell vergessen werden. Zurückgezogen und allein lebte sie in der Türkei, wo sie 1975 starb. Es ist Ipek Calisar zu danken, die in gründlicher Recherche eine Biografie der verdienstvollen Frauenrechtlerin herausbrachte.

Frau Wildenrotter, die als Kursleiterin ihr Debüt bei der Aka gab, erhielt nach ihren lebhaften Ausführungen beifällige Rückmeldungen.

Walter Schwebel