Darmstadt als literarischer Ort
Der von Peter Benz am 21. Mai äußerst lebendige, brillant und spannend vorgetragene Streifzug durch die Darmstädter Literatur kreiste um eine schwer schließbare Lücke im Darmstädter Kulturleben: ein stadtbezogenes und Epochen übergreifendes Literaturarchiv. Die ungeheure Vielfalt ... der in Darmstadt geborenen und der hier aktiv gewordenen Autoren, die Verlage, die hier vergebenen Preise und hier ansässige Organisationen verlangen nach einer geordneten, vielfach nutzbaren Übersicht. Mit einem Strauß trefflicher Argumente, Vergleichen, Zitaten und Aphorismen gelang es Benz, diese Forderung markant zu unterstreichen.
Alle am Kulturleben Beteiligten erkennen wohl die Rolle eines literarischen Gedächtnisses als Speicher und als Zeitbrücke zwischen den Epochen und Strömungen. Schon Goethe erkannte Literatursammlungen als Notwendigkeit der Kulturpflege und regte fortlaufende, breit gefächerte Dokumentationen an. Wilhelm Dilthey arbeitete für den Erhalt der Quellen mit dem Ziel, ein Deutsches Archiv aufzubauen, was dann in Marbach am Neckar zu Stande kam. Benz verwies mit Hochachtung und anekdotischen Einzelheiten auf die Entstehung des Eidgenössischen Archivs unter Mitwirkung von Friedrich Dürrenmatt. Der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt befürchtet gar, dass die Bürger Gefahr liefen „geistig tot und seelisch gelähmt“ zu werden, wenn sie die erstaunliche Sorglosigkeit gegenüber dem Vergessen beibehielten.
Aus Darmstädter Sicht würdigte Benz unter anderen das Bemühen von Karl Wolfskehl, dem eine fast erotische Beziehung zur Literatur nachgesagt wird. Benz stellte fest, dass umfassende stadtliterarische Veröffentlichungen bislang in Darmstadt fehlen. Dafür gibt es verstreute Einzelansätze ohne eine erkennbare gemeinsame Entwicklungslinie. Am weitesten ausgereift und als mögliche Vorleistungen für ein Darmstädter literarisches Gedächtnis verwendbar sind Veröffentlichungen von Heinz Winfried Sabais und Ludwig Fertig für die gesamte Zeit bis etwa 1945. Für die Zeit nach dem Krieg liegen wertvolle Zwischenergebnisse von Kurt Schleucher vor, die der Vervollständigung und der zeitkritischen Bearbeitung harren. Ein großer, aber lückenhafter Buchbestand ist im Literaturhaus vorhanden; amateurhafte Sortierarbeiten seien wiederholt begonnen und ohne Abschluss beendet worden. Peter Benz stellt seine Überlegungen für die Zukunft des literarischen Gedächtnisses mit vier Abteilungen vor:
- Eine Dokumentation aller Autoren mit Stadtbezug in chronologischer Linie.
- Eine Übersicht und Geschichte aller Darmstädter Literaturpreise und Preisträger.
- Eine gründliche Beschreibung der Organisationen mit bundesweiter Bedeutung und Sitz in Darmstadt (Akademie für Sprache und Dichtung und Deutscher Pen-Club)
- Dokumentation aller Darmstädter Verbände, Vereine und Organisationen wie Hessische Literaturfreunde, Verein Buch des Monats, Textwerkstatt / Zentrum für junge Literatur, Alexander-Haas-Bibliothek mit 8000 Werken der jüdischen Kultur, usw.
In der abschließenden sehr lebhaften Diskussion kamen Aspekte zur Sprache, die eine Realisierung eines derartigen Projektes in absehbarer Zukunft kaum erwarten lassen. Bei der Komplexität und Vielfalt des geschilderten Szenarios werde für ein zeitgemäßes Darmstädter Archiv für Literatur das gegenwärtige Gebäude kaum ausreichen. Finanziell und personell ist die Wissenschaftsstadt zur Einrichtung eines modernen Archivs derzeit nicht in der Lage; Sponsoren sind rar geworden. Außerdem dürfen bei einer zukunftsorientierten Aufbauarbeit Themen wie Digitalisierung und laufende Betreuung nicht fehlen! So muss wohl die Errichtung eines literarischen Gedächtnisses wahrscheinlich in die Rubrik „Gut’ Ding … „ eingeordnet werden obwohl die Gefahr besteht, dass Wichtiges (z.B. Nachlässe) verloren geht.
wsw