„Ab nach Kassel“ hieß es für 30 kunstinteressierte Aka-Mitglieder, die um sieben Uhr in der Frühe aufbrachen, um die „dOCUMENTA 13“ zu besuchen. Es war, nebenbei bemerkt, der bisher zweitheißeste Tag des Jahres… Dass die Tour trotzdem ein unvergessliches Erlebnis wurde, lag an der Aka-Kursleiterin Sigrid Geisen, die den Tag nicht nur minutiös geplant hatte, sondern auch als geborene Kasselanerin über das nötige Insiderwissen verfügte, um alle Fragen der Darmstädter zu beantworten.
Seit 1955 gibt es die Dokumenta, auf der 100 Tage lang zeitgenössische Kunst gezeigt wird. Über 150 deutsche und internationale Künstler wurden eingeladen, um ihre Sicht der Welt darzustellen. Parallel dazu laufen Ausstellungen in Kairo, Kabul und Banff, bei denen die Themen Zerstörung, Gewalt und Traumatisierung – aber auch Möglichkeiten der Heilung – in den unterschiedlichsten Objekten und Materialien dargestellt werden.
Viel Aufruhr hatte es im Vorfeld um eine Frau und einen Mann gegeben.
Die Frau: Carolyn Christov-Bakagiev, künstlerische Leiterin, also Chefin der Mammutveranstaltung. Amerikanerin mit italienischen Wurzeln sowie einer ausgeprägten Abneigung gegen vorgefertigte Ideen und Dogmen. In diversen Interviews wollte sie Detailliertes zum Konzept der Dokumenta nicht preisgeben, behauptete gar, es gäbe keins. Äußerungen von ihr führten zu heftigen Irritationen. Kopfschütteln erregte ihre Aussage, sie sehe keinen Unterschied zwischen Menschen, Hunden und Tomaten. Nichtmenschliche Lebewesen seien ebenbürtige Mitwesen, über deren ästhetisches Empfinden wir allerdings nichts wüssten.
Der Mann: Überlebensgroß schaut er vom Glockenturm der St. Elisabethkirche hinunter auf das Dokumenta-Gelände, neugierig dreht er sich ständig hin und her. Die Skulptur des Künstlers Stephan Balkenhol war eine Auftragsarbeit der katholischen Kirche, die traditionell zur Dokumenta eine eigene Kunstausstellung eröffnet.
Ob der Mann in den Lüften selbst oder das Ärgernis einer Konkurrenzveranstaltung der Dame nicht behagten, sei dahingestellt. Sie machte jedenfalls ziemlich viel Wirbel und versuchte, die männliche Lufthoheit zu verhindern. Was aber nicht gelang. Inzwischen stehen alle Besucher schmunzelnd unten, schauen nach oben und fragen sich, ob das alles vielleicht doch nur ein PR-Gag war. Denn inzwischen ist so viel Lobendes gesagt worden, dass jenes angeblich nicht vorhandene Konzept wohl aufgegangen ist – was auch die Zahl der verkauften Eintrittskarten beweist.
Los geht es natürlich am besten mit einer Führung. Doch da dieses urdeutsche Wort historisch belastet ist, führt die wissbegierigen Gruppen jetzt ein „worldly companion“. Er soll – so die Theorie – nicht erklären und interpretieren, sondern mit den Besuchern vor dem jeweiligen Objekt ins Gespräch kommen. Was in der Praxis nicht so ganz glückte. Die älteren Semester der Aka vertrauten da doch eher den fundierten Kenntnissen des ehemaligen Kunstlehrers „Alois“ und kamen nur ein einziges Mal – angesichts eines von Narben übersäten afrikanischen Schädels – in eine rege Diskussion. Überraschenderweise zum Thema Beschneidung…
Was besonders im Gedächtnis blieb von den drei Kunstetagen im Museum „Fridericianum“:
Korbinian Aigner, genannt der „Apfelpfarrer.“ Was folkloristisch klingt, hat einen ernsten Hintergrund. Während seiner Inhaftierung im KZ Dachau züchtete der Priester Äpfel, jedes Jahr eine neue Sorte. Die taufte er KZ1, KZ2, KZ3 und KZ4. Diese Überlebensstrategie , so der Katalog, sei ein „poetischer Akt des Widerstandes.“
Alighiero Boetti: Sein gewebter Wandteppich „Mappa“ gibt die Welt so wieder, wie er sie
sieht, mit verschobenen Grenzen und Dimensionen, in verschiedenen symbolischen Farben .
Vann Nath: Sein Bild „Interrogation at the Kandal Pagoda“ zeigt eine Szene in einem Foltergefängnis. Der Künstler war in Kambodscha unter der Herrschaft der Roten Khmer dort inhaftiert. ER wurde gezwungen, immer wieder Bildnisse des Herrschers Pol Pot zu malen.
In der Neuen Galerie hat sich eine ganz besondere Ausstellung zum Publikumsliebling entwickelt. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus amerikanischer Sicht kann der Besucher aus einer besonderen Perspektive verfolgen: Hunderte von Originalbildern der Zeitschrift „Life“ visualisieren die wichtigsten Menschen, Ereignisse und Erfindungen. Eine Reise ins Land von Kennedy, Cornflakes und Computer.
Technikfreaks dürften sich nur schwer von der Dokumentahalle trennen. Dort nämlich gibt es rasante Exponate in ungewöhnlichen Zusammenhängen.
Wie zum Beispiel bei Thomas Bayrle. Sein „Flugzeug“ ist eine Collage von Tausenden von Fotos, die den Traum vom Fliegen verbildlichen sollen. Daneben wird der Lärm von sieben Automotoren in Gebete verwandelt, bei denen dieselben Worte ständig wiederholt werden.
Um alles sehen zu können, braucht man Tage. Wie stolz berichtet wird, hat die Zahl der verkauften Dauerkarten jetzt schon alle Rekorde geschlagen. Ersatzweise können die Besucher auch eine 10-Stunden-Tour buchen – am Stück!
Die Darmstädter entschlossen sich zum Mut zur Lücke, nahmen allerdings die ganz private Führung von Sigrid Geisen in der Karlsaue trotz der Hitze gern noch an. In dem riesigen Park sind weitere Kunstwerke platziert, die sich mit dem Grundthema beschäftigen. Besonders eindrucksvoll: Das Modell „Scaffold“ von Sam Durant, das von weitem wie ein harmloses Klettergerüst aussieht. Was es darstellt, ist jedoch ganz und gar nicht harmlos. Aus den Modellen verschiedener Galgen der letzten Jahrhunderte hat der Künstler dieses Anti-Denkmal errichtet, das die Todesstrafe anprangern soll.
Als die Aka- Gruppe nach 14 Stunden wieder Heimatluft schnupperte, war das Fazit trotz bleierner Müdigkeit einhellig: Dokumenta? Spitze!
hb