Nationenbildung und Geschlechterkampf

„Wenn am Schluss der romantischen Tragödie der body politic wiederhergestellt und der Familienvater in seine traditionellen Rechte wieder eingesetzt sind, dann hat Schiller das doppelte Zerstörungswerk der Französischen Revolution, die Auflösung des Staats – wie der Familienbande, überwunden – jedenfalls auf dem Theater“ beschreibt A. Koschorke das Grundthema jeder heutigen Jungfrau-Interpretation. Um herauszufinden, wie denn in Darmstadt das französische nationbuilding des 15. Jahrhunderts mit dem modernen Geschlechterkampf zusammengedacht wird, verbrachten

16 Aka-Mitglieder am 16. Oktober reichlich 5 Stunden in der „moralischen Bildungsanstalt Staatstheater“ beim Vortrag von Herrn Ackermann und der anschließenden Theateraufführung.

Da ist einiges weggestrafft worden in der Darmstädter Version 2012. Es fehlt der zweite Pfeiler des Schillerschen Gesellschaftskonstrukts, das familiale Patriarchat, samt donnerndem Gottesurteil. Es fehlt die Figur der Geliebten Sorel; von Schiller bewusst ausdifferenziert aus dem männlichen Wahrnehmungsdualismus Hure – Heilige - oder auch höfische Spaßgesellschaft versus erhabene Kriegshandlung – und mit Merkmalen wie Vernunft, Ernsthaftigkeit und Empathiefähigkeit ausgestattet, wird sie hier zur sprachlosen Doppelhure degradiert. Und es fehlt der politische Kontext.

Die Aufgabe von Orléans kann bei Schiller als sehr „coole“ strategische Entscheidung zur Frontbegradigung, zur Schonung der eigenen finanziellen und personellen Ressourcen gelesen werden – mit dem für den Feudalherrscher angenehmen Nebeneffekt, ein paar zur Aufmüpfigkeit neigende Stadtbürger loszuwerden. Mit gottgegebenen Motivationsschub wendet die Jungfrau von Orléans diese politisch-militärische Situation zugunsten der ungeliebten Stadt.

Die Streichungen und Veränderungen fügen sich in die Logik der Darmstädter Inszenierung. Hier sind keine homerischen Helden am Werk, sondern „Buben“, die mit Fahrtenmessern statt mit Schwertern kämpfen und deren Charakter mit der Schillerschen Erhabenheit zugleich die politische Dimension überhaupt ausgetrieben worden ist. Diese „Buben“ sind postmoderne Zyniker, die Distanz halten zu ihren feudalgesellschaftlichen Rollen und die keinen Kriegsgrund brauchen, weil ihnen im Zweifel ihre Gang-Rituale wichtiger sind als der lästige Krieg. Dafür steht die Figur des Dauphin (A. Vögler), der mal ödipales Würstchen, mal geiler Bock, mal Gangleader sein darf, aber niemals König.

In Darmstadt ist die mampfende Wiedervereinigung des Burgunders mit der Franzosen-Gang treffender Ausdruck dieser postmodernen Männerwelt. Frauen sind darin willkommen, solange sie nützlich sind wie Johanna (R. Losert) und nicht stören wie Isabeau (M. Schulte-Tigges). In dieser Logik ist das keine Ausbeutung oder Unterdrückung, hier instrumentalisiert sowieso jeder jeden und Sinn sucht niemand außer der ekstatischen Jungfrau.

Doch dann, als die unerträgliche Seichtigkeit des männerbündischen Daseins zu ermüden droht, gelingt der Regisseurin (L. Bunk) ein hinreißendes Bild für den Geschlechterkampf. Sehnsucht und Begehren ziehen zwei Menschen zueinander. Sie kommen aber nicht zusammen, weil sie ihre Identität mit dem Langschwert verteidigen müssen. Dem Engländer Lionel (S. Köslich) bleibt davon nur Liebesschmerz zurück. Johanna aber verliert die göttliche Legitimation ihrer charismatischen Handlung, weil sie den unbedingten Glauben an die moralische Richtigkeit ihrer Mission verliert. Ohne Charisma, ziel- und schutzlos inmitten einer brutalen Kriegshandlung hat sie keine Überlebenschance. Da hätte es zu ihrer Vernichtung der Keule Inquisition nicht mehr bedurft, die der „Dramaturg Schiller“ um der Klarheit seiner Argumentation willen verschmäht hatte. Das Pathos der Schillerschen Sterbeszene wurde damit noch mal überboten – ohne dramatischen Mehrwert. Trotzdem gab es freundlichen, wenn auch nicht überschwänglichen Schlussbeifall.
dh