„Wroclaw war noch nie so sehr Breslau wie heute!“ hatte der Referent Norbert Irrgang seinen Vortrag am 15. Januar für die Akademie 55plus genannt. Und erklärend hinzugefügt: Wie das polnische Wroclaw mit seiner deutschen Vergangenheit umgeht – offen, ehrlich, unverkrampft. Ein vorbildliches Beispiel für Versöhnung und neue, europäische Identität.

In einem gut strukturierten, reich bebilderten Vortrag zeigte der ehemalige stellvertretende Schulleiter der Edith-Stein-Schule das Portrait einer faszinierenden Großstadt, die im Lauf der Geschichte sich immer wieder mit den unterschiedlichsten Herrscherhäusern arrangieren musste. Ob die Piasten, Böhmen, Ungarn, Habsburger oder Hohenzollern: Sie alle regierten die „Blume Europas“, wie sie der Historiker Norman Davies einmal genannt hat. Wegen der vielen Brücken und Stege über die Oder und andere Flüsse ist Breslau auch als „Venedig Polens“ bekannt. Heute gilt sie überdies als die „grünste Stadt“ unseres östlichen Nachbarlandes

Bis ins 16. Jahrhundert galt sie als „Vielvölkerstadt“, erst danach setzt die deutsche Prägung ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutsch die Muttersprache von 95 Prozent der Einwohner. Nach der Vertreibung der meisten Deutschen 1945 kamen polnische Siedler vor allem aus Ostpolen und übernahmen deren Häuser. In den Jahren bis zur Wende 1990 wurde Polen kommunistisch regiert, das Interesse an der deutschen Sprache und Kultur war gering. Das änderte sich schnell, als die Grenzen geöffnet wurden. „Das Bedürfnis, die eigene Geschichte zu betrachten, war groß“, so der Referent. Schon ein Jahr später wurde das alte polnische Wappen wieder eingeführt, das in der Mitte das Antlitz Johannes des Täufers zeigt. Auch die Beschäftigung mit den berühmtesten Söhnen und Töchtern der Stadt nahm zu: Angelus Silesius, „der schlesische Engel“, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und Joseph von Eichendorff z.B. waren eng mit der Stadt verbunden.

Heute ist sie die europäischste aller polnischen Städte, betonte der Referent. Diese Entwicklung verdankt sie dem „wichtigsten aller Rohstoffe“: der Bildung, denn die Bevölkerung ist „jung, dynamisch und gut ausgebildet.“ Davon können die vergreisenden deutschen Großstädte nur träumen: Auf 640.000 Einwohner kommen dort 140.000 Studenten. Davon entfallen 43.000 auf die renommierte Universität, der Rest verteilt sich auf weitere 10 Hochschulen. Kein Wunder, dass es dort ein vielfältiges Kulturangebot gibt. Gespannt sein darf man auf das Jahr 2016, wenn Breslau neben dem nordspanischen San Sebastian europäische Kulturhauptstadt wird.

Wer jetzt neugierig geworden ist, kann schon vor dem großen Kulturjahr diese sowohl geschichtsträchtige als auch moderne Großstadt kennenlernen, denn immerhin hat die Akademie ja seit zwei Jahren eine polnische Partner-Organisation in Starachowice. Im nächsten Jahr ist dort ein weiterer Besuch geplant. Der Großraum Breslau könnte dann das Highlight der Veranstaltung werden.

hb