Altern bedeutet nicht nur, dass körperliche und geistige Fähigkeiten schwinden, vielmehr kann die letzte Lebensphase auch mit Gewinnen und Wachstum verbunden sein. In einer gut besuchten Vortragsveranstaltung der Akademie 55plus im Wohnpark Kranichstein erklärte Dieter Heymann seinen Zuhörern die „Wissenschaft vom fröhlichen Altern“.

Er berichtete über das neue Fachgebiet Psychogerontologie, die das Altwerden aus psychologischer Sicht untersucht. Zum würdevollen Altern gehört die Fähigkeit und Möglichkeit – unabhängig von jeder autoritären Instanz – ein selbstbestimmtes Leben führen und selbstständig entscheiden zu können.

Zur Einstimmung zeigte Heymann Fotos von Frauen zwischen 60 und 101 Jahren, die in einer Frankfurter Seniorenresidenz leben. Sie waren professionell geschminkt und von einem Berufsfotografen aufgenommen worden, der die Schönheit des Alters erfassen wollte. Auf den Bildern strahlen alle Lebenslust aus. Das kommt auch in den Sprüchen der Abgebildeten wie „fürs Altwerden habe ich noch genug Zeit“, „ich will noch net“ oder „der da oben kann noch ein bisschen warten“ zum Ausdruck.

Alter und Leidenschaft schließen sich nicht aus. Heymann erzählte von der Freundschaft des 74 Jahre alten Wolfgang von Goethe mit der neunzehnjährigen Ulrike von Levetzow. Der Dichterfürst war stolz darauf, „noch so viel intus zu haben, dass es zum Verlieben reicht“. „Wer etwas besonders schön findet und sich für etwas begeistern kann, hat eine höhere Lebenserwartung als die Empörten“, erklärte Heymann. Er bezog sich dabei auf eine Studie der Yale-Universität, die im Verlauf von 23 Jahren die Lebenseinstellung von 560 Erwachsenen untersucht hatte und zu diesem Ergebnis gekommen war.

Was wir über das Altwerden denken, prägt seine Richtung und seinen Verlauf. Es sei also wichtig, wie wir uns unser Alter vorstellen, meinte Heymann. Für den Biologen bedeute Altern Degeneration und Verlust, für den Psychologen ein Zusammenspiel von Chancen und Wachstum. Altern sei eine individuelle Einzelleistung, hänge von der genetischen Grundausstattung ab, sei aber auch dank Medizin und Lebensweise eine gesellschaftliche Errungenschaft – und nicht zuletzt eine biografische Leistung. Schon in der Jugend sollte dafür der Grundstein gelegt werden, meinte Cicero. Denn Glück sei stets mit Leistung und Anstrengung verbunden.

Wie sollen wir im Alter mit unseren Alltagsaufgaben umgehen? Heymann empfahl dazu das SOK-Modell. Die drei Buchstaben stehen für Selektion, Optimierung, Kompensation. Er veranschaulichte das Modell am Beispiel von Arthur Rubinstein, der selbst im hohen Alter ein begnadeter Pianist blieb. Aber: Er suchte sich für sein Repertoire nur Stücke aus, die er wirklich beherrschte (Selektion), er musste länger üben (Optimierung), und er spielte deutlich langsamer (Kompensation). Zur Kompensation gehört auch, schwindende Sehkraft mit einer Brille auszugleichen oder sich bei zunehmender Vergesslichkeit mit Zetteln an Termine und bevorstehende Aufgaben zu erinnern.

Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt mit dem Lebensalter. Aber es gebe Möglichkeiten, diesen Prozess mit heutigen Methoden zu verzögern, sagte Heymann. Nämlich mit Bewegung, gesunder Ernährung und guten Beziehungen („Sozialkapital).

Als alte Menschen gefragt wurden, wie alt sie sich fühlen, zeigte sich folgender Gegensatz: Je älter sie waren, umso höher war die Differenz zwischen tatsächlichem und gefühltem Alter. Aber in einem Punkt waren sich alle einig: 30 Jahre jung wollte keiner mehr sein.

Zum Nachlesen und Weiterdenken empfiehlt Dieter Heymann die folgenden Bücher: „Ein liebender Mann“ von Martin Walser, den Essay „Empört Euch“ von Stéphane Hessel und „Die verlorene Kunst des Heilens“ von Bernard Lown.
pep