... im Staatstheater Darmstadt
Das Kind berühmter Eltern zu sein, kann das persönliche Leben, die eigene Kreativität, die Freiheit sich individuell zu entwickeln, erheblich beeinträchtigen. Man weiß von den Problemen der Kinder – Söhne wie Töchter – Thomas Manns, die gegen den „Zauberer“ nur schwer ankamen.
Wir wissen heute von den Schauspielern Kirk und Michael Douglas, dass ihr Konkurrenzverhalten jahrelanges Schweigen zur Folge hatte. Selbst als Schwester eines berühmten Familienmitgliedes war/ist eine eigenständige Entwicklung, die Eroberung einer gleichwertigen, geschweige denn überragenden Position Schwerstarbeit – mal abgesehen von den Jacobs-Sisters, deren Einmaligkeit ihres 4fach gleichen Aussehens und ihrer 4fach putzigen Hündchen garantiert war.
Im Fall Camille Claudels (Schwester des Dichters Paul Claudel) kommt zum autoritären Bruder noch ein dominanter Künstler und problematischer Lebensgefährte (Auguste Rodin) hinzu. Beide mischen sich extrem in ihre Lebensplanung ein und machen sich an ihrem Schicksal mitschuldig.
Camille Claudel (1864 – 1943) wurde schon sehr früh vom Vater in ihrer künstlerischen Neigung, der Bildhauerei, unterstützt. Er sorgte unter anderem für ihre Ausbildung an privaten Instituten, da Frauen damals (Ende 19.Jhdt) keine Akademien besuchen durften. Die Rolle des häufig abwesenden Vaters übernahm nach und nach der Bruder, der völlig unangemessen, jedoch der Zeit entsprechend, ihr bisher relativ freies Leben bestimmte. Es geschah in guter Absicht, denn er liebte seine Schwester.
Mit 19 Jahren traf sie den 24 Jahre älteren Rodin, mit dem zunächst ein „Arbeitsverhältnis“ entstand. Vermutlich war es Paul Claudel, der Auguste und Camille einen auf Dauer unerfüllbaren und unerträglichen Knebelvertrag aufzwang.
Camille verließ 1892 Rodin, bzw. das gemeinsame Atelier, fasste nun aber, obwohl endlich frei, nicht mehr Fuß in der Welt der Kunst. Ihre Seele wurde krank. Seit 1905, mit 41 Jahren, vernichtete sie regelmäßig Teile ihrer Kunst, litt auch unter Verfolgungs- und Vergiftungswahn. Sie verwahrloste zusehends. Nach dem Tod des Vaters, der sie noch heimlich unterstützt hatte, beschlossen die Mutter und der Bruder, sie in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen. Weder die Mutter noch die Geschwister besuchten sie dort jemals, sie verhinderten sogar eine mögliche Entlassung nach etwa 7 Jahren. Camille starb dort 1943 – 78jährig. 30 Jahre verbrachte sie dort, schuf nie mehr ein Werk, hatte nie mehr Erfolg.
Wo war der Bruder Paul Claudel, nachdem er so massiv in das Leben seiner Schwester eingegriffen hatte? Der „bedeutendste Dichter der katholischen Erneuerungsbewegung“ war im diplomatischen Dienst, lebte in Tokio, Washington und Brüssel. Für Camille in Montdevergues war kein Platz in seinem Leben.
Mei Hong Lin choreografierte mit dem Tanztheater Darmstadt nicht in erster Linie chronologisch das Bild eines Künstlerlebens, sondern stellt in collagenhaften Bildern das verzweifelte Leben einer gebrochenen Frau in der Nervenheilanstalt dar, die keine Beziehung zur Außenwelt und ihrem früheren Dasein hat. Ihre außergewöhnliche Begabung wurde vom Leben und besonders von den Männern ihrer engsten Umgebung vernichtet.
Mei Hong Lin inszenierte zu ihrem Abschied nach 10jähriger Arbeit in Darmstadt auch „Bernada“, die Darstellung einer herrischen Mutter, Bernada Alba, „die ihre Töchter aufgrund ihrer unbarmherzigen Moralvorstellungen zu unmenschlicher Isolation zwingt.“ Sie und Camille Claudel „scheitern an der gesellschaftlichen Situation ihrer Zeit“ (Programmheft S. 46). Die Gemeinsamkeit wird durch das fast identische Bühnenbild verstärkt, die Darstellungen unterscheiden sich jedoch sehr. In jedem Fall empfiehlt es sich, die Einführung vor der Veranstaltung anzuhören.
mika