Als er noch ein Kind war, wurde in seiner Familie zwar manchmal über den Krieg gesprochen, aber Werner Nüsseler (Jahrgang 1946) hat damals nicht so genau hingehört. Er kann sich nicht erinnern, dass sein Vater Martin, der nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft geraten war, jemals über seine Erlebnisse gesprochen hätte.
Seit knapp 15 Jahren beschäftigt sich Nüsseler mit Ahnenforschung. Was er über seine Vorfahren und deren Kriegseinsätze herausgefunden hat, schilderte er mit multimedialer Technik im Aka-Vortragssaal. Er hatte sogar eine Rede mit der Originalstimme von Kaiser Wilhelm I. in seinen Vortrag integriert, um seinen Zuhörern den Zeitgeist vor 100 Jahren verständlich zu machen. Der Kaiser tönt pathetisch: „Es muss das Schwert entscheiden“.
Nüsselers Familie stammt von der Schwäbischen Alb. Die Lebensbedingungen waren hart. Noch heute wird in einem Museum ein Gebärstuhl gezeigt und dazu eine erschütternde Erklärung abgegeben. Das Neugeborene musste nach der Geburt 24 Stunden liegen bleiben. Wenn es überlebte, lohnte es sich, das Kind aufzuziehen.
Alle männlichen Vorfahren Nüsselers, die von Beruf Metzger, Köche, Bierbrauer und Gastwirte waren, mussten in den Krieg ziehen. Sechs Jahre diente der 1844 geborene Urgroßvater Melchior – laut noch existierendem Soldbüchlein hatte er graue Augen, blonde Haare und war 1,68 Meter groß (in damaligen Maßen 5 Fuß 9 Zoll 3 Linien) – in einem Infanterieregiment bei der Landwehr. Es war die Zeit des Deutschen Bundes und des deutsch-französischen Krieges (1870 bis 1871). Aus alten Unterlagen weiß Nüsseler, wie sein Uropa damals ausgestattet war: Gewehr mit Bajonett (Stichwaffe) und Faschinenmesser (Hiebmesser). Was er in welches Fach in seinen Tornister (Rucksack) packen musste, war genau vorgeschrieben. Auch Nähgarn, Putzzeug und eine Kaffeemühle gehörten zum Equipment. „Er war wie für einen Campingurlaub ausgerüstet. Leider aber war es für einen Krieg“, sagte Nüsseler.
Großvater Melchior junior, 1876 geboren, wurde 1915 eingezogen. Sein ebenfalls noch erhaltener Militärpass und sein Notizbuch geben teilweise Aufschluss über seine Feldzug-Etappen während des Ersten Weltkrieges. Melchior hatte 1906 geheiratet und zu diesem Zeitpunkt fünf Kinder. Die Soldaten pflegten „nach siegreichem Sturm“ Ansichtskarten von den Orten, die sie eingenommen hatten wie Laon, Mechelen oder Gent in die Heimat zu schicken. Die Postkarten konnten von hinten mit einer Kerze beleuchtet werden. Das sah so aus, als stünden die abgebildeten Sehenswürdigkeiten in Flammen.
In den Propagandafilmen der damaligen Zeit wurde die Kameradschaft verherrlicht und das Sterben ausgespart. Die Realität sah anders aus: 17 Millionen Tote, 20 Millionen Verwundete. Großvater Melchior brauchte immerhin nicht an die Front. Er wurde in der Nähe von Gent in einem Leichtkrankenhaus eingesetzt, einem Etappen-Lazarett.
Von Vater Martin, 1910 geboren, hat Nüsseler nur ein einziges Photo, das ihn in Uniform zeigt. Während des Zweiten Weltkrieges war er Koch im Balkanfeldzug und diente bei einer Lichtmessbatterie, die feindliche Geschütze ortete. Nüsseler versucht seit einiger Zeit, über die Deutsche Wehrmachtsstelle mehr über seinen Vater und dessen gefallenen Bruder herauszufinden.
„Krieg ist nie eine Lösung“ – diesen Schluss hat er aus seiner Familiengeschichte gezogen. Mit einem Foto von friedensbewegten Menschen, auf deren Spruchband dieser Satz zu lesen ist, beendete der Referent seinen nachdenkenswerten Rückblick auf seine private deutsche Geschichte. pep