„Welche Popmusik-Titel sind Ihnen aus dem Oktober 1968 geläufig? Was ist bis heute bekannt und beliebt, was haben Sie (fast) vergessen?“ Mit diesem Einstieg machte Richard Weber-Laux deutlich, dass viel an Musik schnell in Vergessenheit gerät. So gab es vor rund 250 Jahren wesentlich mehr beachtenswerte und damals beliebte Komponisten als landläufig bekannt: eine interessante Entdeckungs-Hör-Reise.
Man sollte sich vor Augen halten: Radio und Fernsehen liefern (mit gewissen Ausnahmen) Musik, die der Mehrheit gefällt, um Hörer/Konsumenten an sich zu binden. Das ist echte Mainstream-Musik. Die Schlager-Charts vor 50 Jahren enthielten uns gut bekannte Namen, aber manche Titel und Stars sind heute „out“ (z.B. Heintje oder R. Pavone), andere werden noch gerne gespielt und gehört (Beatles, Bee Gees etc.). Ein momentaner Hit wird nicht unbedingt später ein Klassiker. Was macht denn nun einen Titel zum Klassiker? Weber-Laux kann mehrere Gründe nennen: innovative Komposition, markante Stars, ein Ohrwurm, besonderes Ereignis, das mit dem Titel verbunden wird ...
In den Jahren nach 1770 war es ähnlich und doch wieder anders. Es war eine Zeit des Umbrüche und nicht nur im politischen Sinne. Auch der Kulturbetrieb wurde ein anderer: Kultur war nicht nur dem Adel vorbehalten, auch Bürger konnten partizipieren; Kunst entstand weniger als Auftragswerk als vielmehr durch den Ausdruckswillen des Künstlers („Sturm- und Drang-Zeit“); die ehemals galante Musik musste empfindsameren Tönen weichen. Als Beispiel beschrieb Weber-Laux den Musikbetrieb am Mannheimer Hof zur Zeit des Kurfürsten Karl Theodor: dieser liebte die Kunst über alles und förderte sie nach Kräften. Er hatte ein herausragend großes Orchester, holte viele „Compositeure“ an seinen Hof und ermunterte sie, Neues, bisher Ungehörtes zu schaffen.
So entstand u.a. auch die neue Gattung Sinfonie. Eine Sinfonia war früher nur ein einleitender Satz oder eine Zwischen-Musik innerhalb eines größeren Opus. Nun wurde sie zu einer eigenständigen größeren Programmmusik ausgebaut. Und es gab viel Neues zum Hören: Größere Dynamik (von pp bis ff) sorgte für musikalische Spannungen, neue Instrumente erzeugten für ungewohnte Klänge, tradierte Kompositionsformen wurden abgewandelt oder ignoriert, Affektmusik wurde salonfähig. Fürr die Bekanntmachung der Noten sorgten eine steigende Zahl von Musikverlagen, begünstigt durch neue Drucktechniken.
Am musikalischen 2. Teil des Vortrags wurden wir Zuhörer aktiv beteiligt. Weber-Laux stellte 10 Sinfonien der damaligen Zeit in Ausschnitten vor; jeweils ein schneller Satz wurde angespielt. Neben der subjektiven Hörerfahrung, die geäußert werden konnte, wurde jeder Anwesende gebeten, die Sinfonien in einem privaten „Ranking“ zu bewerten. Neben den bekannten Namen J. Haydn, W. A. Mozart und C. Ph. E. Bach empfahlen sich dabei mehr oder weniger unbekannte Meister wie G. Ch. Wagenseil, J. B Vanhal oder J. W. Hertel. Dass dabei die Meinungen auseinander gingen, war nicht anders zu erwarten. Mancher Satz war noch komplett dem Barockstil verhaftet, anderes klang schon wie „ein früher Beethoven“. Gefällige, überraschende, schwungvolle, langweilige und eintönige, vorhersehbare und tänzerische Klänge wechselten sich ab. Nicht jedem Werk würden die Zuhörer im festgefügten Konzertbetrieb wieder begegnen wollen. Es lohnt sich aber zweifellos, auch unbekannten Komponisten der „Sturm- und Drang-Zeit“ eine Chance zu geben. Das war auch die Intention des Vortragenden.
Zum Schluss kann noch vermeldet werden, wie das Ranking ausging. Haydn und Mozart erhielten nicht ganz überraschend die Spitzenpositionen, der Bach-Sohn wurde immerhin von Vanhal und Wagenseil auf den Platz 5 verdrängt…
Klaus-Peter Reis