Eine Messe im Darmstadtium mit allem Drum und Dran: Zelebrant, Chorgesang, Liturgieelemente, aber auch mit Sinfonieorchester, Popmusik und Ekstase… Mittendrin der Leiter des Ganzen: Wolfgang Seeliger. Ein Spektakel mit starken religiösen Bezügen, aber ebenso sehr weltlich und gottfernen Gesängen. Wir hatten das Vorrecht und das Vergnügen, einer ausgedehnten Werkprobe beizuwohnen.
Seeliger führt in einem Kurzvortrag selbst in das Werk MASS von Leonhard Bernstein ein. Seeliger sprach bewundernd über Bernstein, den er in dessen letzten Lebensjahren als Assistent sehr nahe kam. Er sei ein Vollblutmusiker, exzentrisch, impulsiv, besessen und in allen Musikstilen bewandert ein großer Komponist, Dirigent und Musikpädagoge gewesen, zugleich aber auch melancholisch bis depressiv und zugleich religiös. MASS sei für Bernstein aus der Überzeugung entstanden: Die Krise des Glaubens ist die Krise des 20. Jahrhunderts. Folgend dem liturgischen Ritus einer katholischen Messe beschreibt MASS die Erlebnisse eines Zelebranten, dessen theologische Überzeugung durch zweiflerische Kirchenbesucher selbst der Verzweiflung nahe bringen. Alles wird vermittelt mit den musikalischen Mitteln der 70er Jahre.
Mit diesem Vorwissen werden wir im großen Saal mit einem Probenausschnitt des gewaltigen Opus konfrontiert: 2 Chöre, 12 Solisten, ein Kinderchor, eine Pop-Band und großes Sinfonieorchester - schon rein optisch erschlagend. Dazu eine Spielfläche mit Altar. Die Messe wird - wie von Bernstein vorgegeben - szenisch dargestellt, was die Wirkung theatralisch wesentlich verstärkt.
Ein meditatives, rein instrumentales Anfangsstück ist sehr lyrisch und leise, der Gegensatz zum Folgenden umso stärker: die Zweifler melden sich provokant und lautstark zu Wort: die Menschheit habe das, was Gott geschaffen hat, nicht verstanden. „Wir taten was uns gefiel, …und es war gut“. Vertrackte Rhythmen, lautes Schlagzeug, Bläser und Keyboard: weltlicher Zeitgeist bricht lautmalerisch in die kirchliche Ruhe. So geht es im Wechsel weiter: Der Zelebrant ruft zu Gebet und Meditation, Menschen von der Straße (der „Streetchoir“) stören und schocken ihn mit ihren widersprechenden Aussagen und Anfragen.
Seeliger unterbricht nur selten; musikalisch gibt es vom ihm offensichtlich wenig zu korrigieren: Hier gibt mal der E-Gitarrist einen Rhythmuswechsel nicht korrekt wieder, da hat der Männerchor eine unpräzise Stelle; dies wird mehrfach wiederholt, bis es klappt. Immer wieder greift die Regisseurin in die laufende Probe ein: Die szenische Darstellung braucht passende Gesten und variantenreiche Platzierungen der Akteure. Der Zelebrant, ein ausdrucksstarker Bariton dunkler Hautfarbe, wünscht sich ein schnelleres Tempo des Dirigenten oder hätte gern mehr Sänger um sich. Die Technik hat gelegentlich die LED-Wand (deutsche Übersetzung der englischen Originalsprache) und manche Solisten-Mikrofone noch nicht richtig im Griff.
Schließlich wird es gegen Ende des Stückes für uns Zuhörer unmittelbar bedrängend und unter die Haut gehend. Alle Sänger verlassen sozusagen den Gottesdienstraum (d.h. sie strömen in den gesamten Zuschauerraum); sie schreien und tanzen uns ihren tiefen Wunsch nach Frieden („Dona nobis pacem“) entgegen. Doch das Ganze endet versöhnlich: nach einem ausdrucksstarken Zusammenbruch des Zelebranten der an sich selbst und Gott zweifelt, kehren die Sänger reumütig zurück und stimmen ein sanftes Loblied auf den Schöpfergott an.
Man muss MASS nicht unbedingt lieben, aber beeindruckend in der Intention und mitreißend in der musikalischen Verwirklichung ist es allemal. Melodien sind mal „Typisch Bernstein“, mal wie Hindemith oder Schönberg, mal wie Musik der Flower-Power-Zeit. Die rund 200 Mitwirkenden haben 5 Tage intensivster Probenzeiten hinter sich. Seeliger hat vorher offensichtlich gute Arbeit geleistet; er muss nicht ein einziges Mal laut und energisch werden. Für alle AKAler, die sich bei der Aufführung am Folgetag nicht gänzlich überraschen lassen wollten - MASS ist ja wegen seiner Komplexität und dem personellen Aufwand selten zu sehen -, war es eine passende und lehrreiche Einführung.
Klaus-Peter Reis
Lesen Sie dazu auch den Artikel im Darmstädter Echo > Beeindruckender Kampf um den Glauben