Jedes Jahr am dritten Freitag im November ruft der bundesweite Vorlesetag – eine gemeinsame Initiative der Wochenzeitung Die Zeit, Stiftung Lesen und Deutsche-Bahn-Stiftung – mittlerweile über 110 000 Vorleserinnen und Vorleser auf den Plan. „Gemeinsam lesen sie über zwei Millionen kleinen und großen Zuhörern vor, jeder kann dabei sein und an diesem Tag Geschichten zum Geschenk machen“, heißt es in einer Pressemitteilung der Aktion.
Auch ich habe mich in diesem Jahr wieder zum Vorlesen angemeldet, diesmal beim Waldkindergarten „Kranichnest“ in Darmstadt – Kranichstein.
Ein Waldkindergarten wird häufig als „Kindergarten ohne Dach und Wände“ bezeichnet. Der wesentliche Unterschied zu konventionellen Kindergärten besteht darin, dass die betreuten Kinder mit ihren Erziehern den Kindergartenalltag fast durchgehend außerhalb von Gebäuden, also im Wald, verbringen. Und die Aktivitäten im Freien finden bei jedem Wetter statt.
So machte ich mich am Freitagmorgen auf den Weg nach Kranichstein. Als ich um 9 Uhr beim Kindergarten ankam, hieß es: Die sind schon seit 8 Uhr im Wald. Man erklärte mir den Weg dorthin und 10 Minuten später winkten mir fröhliche Kinder zu, denn ich wurde von ihnen bereits erwartet. Sie saßen auf Baumstämmen, die zu einem Karree mitten im Wald angeordnet waren. Fünfzehn Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren und drei Begleiterinnen stellten sich mir einzeln vor. Natürlich konnte ich mir nicht alle Namen merken.
Ich bekam einen Platz auf einem Baumstamm zugewiesen und ein faltbares Iso-Sitzkissen als Unterlage. Ich packte zuerst meine Lesebrille aus und kramte dann ein Grimm´sches Märchenbuch aus meinem Rucksack. Ich wollte das Märchen von Frau Holle vorlesen. Zu diesem Märchen zeigte ich von Kindern gemalte Bilder, die ich aus dem Internet auf meinen Laptop heruntergeladen hatte. Passend zur Geschichte erklärte ich, was ein Spinnrad ist, was die Spindel macht, wie ein Brunnen aussieht und wie man aus einem großen Backofen mit Schiebern das Brot herausholt. Die Kinder hörten mir aufmerksam zu.
Als ich geendet hatte, lernte ich die Realität eines Waldkindergartens kennen: Es fing an zu regnen, nein zu prasseln. Die drei Betreuerinnen spannten, so schnell sie konnten, ein Zelttuch auf, festgezurrt an den Bäumen und in der Mitte abgestützt durch einen starken Ast. Während dessen forderten mich die Kinder zum Fangen- und Versteckspielen auf. Ihnen machte der Regen überhaupt nichts aus. Glücklicherweise hatte ich schon entsprechende Kleidung angezogen, denn durch den Wetterbericht war ich vorgewarnt.
Als wir unter dem Zelt Platz nehmen konnten, war es auch schon Zeit fürs Frühstück. Erst wurden den Kindern die Hände mit mitgebrachtem Wasser und Seife gesäubert, dann packte jedes sein Pausenbrot aus. Und ich wurde gebeten, ein weiteres Märchen vorzulesen. Ich wählte die „Bremer Stadtmusikanten“. Nach kräftigem Applaus wurde ich gebeten, doch sehr bald mal wieder zu kommen - und möglichst Sonnenschein mitzubringen.
Werner Nüsseler
Akademie 55plus