Das Requiem von Verdi live zu erleben ist schon etwas außerordentlich Eindrucksvolles. Wenn das Ganze mit rund 160 Mitwirkenden in einer Turnhalle vor 15 AKA-Mitgliedern als hautnahe (und einzige) Zuhörer/Zuschauer passiert, erfährt das Erlebnis noch eine Steigerung, auch wenn es „nur“ eine Konzertprobe ist.
Aus Kostengründen, so die Erklärung des Dirigenten Wolfgang Seeliger, findet die Probe (für die AKA überraschend) in der großen Turnhalle der Lichtenbergschule statt.
Es ist aber überhaupt kein Nachteil, wir sind - wie erwähnt - dadurch quasi mitten im Geschehen. Erster Eindruck: die Mitglieder des Beethoven-Orchesters aus Krakau, mit dem Seeliger gerne zusammenarbeitet, sind im Durchschnitt mindestens 25 Jahre jünger als der Chor. Doch die nächste Überraschung: der Chor wirkt trotzdem stimmlich sehr frisch und äußerst präsent. Der Dirigent und „sein“ Konzertchor sind zwar schon Jahrzehnte zusammen (sie feiern gerade ihr 40jähriges Jubiläum), aber sie haben sich ihre stimmliche Jugend bewahrt.
Das anfängliche „Requiem“ von Verdis großer Totenmesse wird auswendig gesungen; es zieht den Zuhörer sofort in den musikalischen Bann. Das Pianissimo und die langen Pausen zwischen den Anfangssequenzen werden extrem ausgekostet. Das Solistenquartett singt hier noch zurückhaltend. Seeliger beschwört nahezu alle Akteure mit einer intensiven Zugewandtheit; er steht übrigens dabei - in Ermangelung eines echten Podestes - auf dem Oberteil eines schuleigenen Turnkastens, ständig in der Gefahr, davon herabzufallen.
Mit dem „Dies irae“ (Tag des Zornes) wird es gewaltig und ohrenbetäubend: Giuseppe Verdi hat Fortissimo vorgeschrieben und die Turnhalle erbebt; das Jüngste Gericht wird somit zumindest akustisch vorstell- und am Körper spürbar. Seeliger wird jetzt gleichsam zum Dompteur der Klangmassen. Er kann sich dabei seines Chores und dessen Präzision sicher sein, denn die Sänger reagieren auf alle seine weit ausholenden Bewegungen wunschgemäß. Der Musikfluss wird von ihm nur sehr selten unterbrochen, um hier kleine Unsicherheiten der Bläser und dort Temposchwankungen der Streicher zu bemängeln. Die Solisten müssen jetzt ihr ganzes Können zeigen, um sich gegen den Chor zu behaupten; vor allem dem glänzenden jungen Tenor aus Korea und der strahlenden Sopranistin gelingt es sehr gut. Es lässt sich nicht verleugnen, dass die Musik von einem Opernkomponisten stammt; aber Seeliger vermeidet alles allzu Theatralische und stellt die musikalische Deutung dieses alten liturgischen Textes in den Vordergrund. So hat es Verdi auch gewünscht für seine Messe, die er aus Anlass des Todes eines Schriftstellerfreundes schuf. Sowohl Hoffnung als auch Angst, Glaubensgewissheit und Freude, aber auch Schmerz und Tränen werden eindringlich vermittelt. Es reißt eine AKA-Zuhörerin zum spontanen Zwischenapplaus hin.
Das lyrische „Offertorium“ ist allein den Solisten überlassen. Sie meistern die sehr lyrischen, aber auch zum Teil vertrackten Tonfolgen souverän; der Maestro hat nichts auszusetzen; Beifall von ihm, vom Chor und dem Orchester brandet auf.
Die Teilnehmer der Akademie 55plus verlassen mit der Pause beeindruckt den Turnsaal. Wer sich Karten für die Konzertaufführung am Folgetag hat reservieren lassen, kann sich auf einen großen Abend freuen.
Was so nebenbei mehr optisch in Erinnerung bleibt: die Turnschuhe des Dirigenten, das weiße Brillengestell des ersten Geigers und ein total schwarzer Kontrabass, gespielt von einem strohblonden Musiker…
Klaus-Peter Reis