Gebräuche, Riten und Haltungen der jüdischen Religion sind für manchen Andersgläubigen befremdlich und werfen Verständnisfragen auf. Wer hierauf Antworten sucht und sich nicht in Bücher vertiefen willen, sollte die kleine, aber feine Ausstellung der neuen Synagoge Darmstadt in der Wilhelm-Glässing-Stasse besuchen.
Ingeborg Nahmany, Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde, hat AKA-Mitgiedern die Synagoge, die Gemeinde und das Museum anschaulich erläutert.
Die über lange Zeit gewachsene und anerkannte jüdische Bevölkerung Darmstadts wurde in der NS-Zeit jäh zerschlagen und quasi ausgelöscht: gedemütigt, vertrieben, deportiert, ermordet. Was nach dem Krieg mit 5 Familien zaghaft als neue Gemeinschaft begann, ist jetzt - vor allem durch Ansiedlung russischstämmiger Juden - wieder zu einer Gemeinde von 640 überwiegend älteren Mitgliedern angewachsen. Die neue Synagoge, symbolhaft geweiht am 08.11.1988, enthält neben dem Gebetssaal Versammlungs- und Gruppenräume für die Gemeindearbeit.
Das knapp 5 Jahre alte Museum füllt zwar nur einen Raum des ganzen Gebäudes, eröffnet aber zusätzlich zum Ausgestellten durch digitale Medien in Ton, Bild und Text guten Zugang zu jüdischem Leben und Glauben. Die Idee und Ausgestaltung stammen von der Installationskünstlerin Ritula Fränkel (1952-2015), die in der Gemeinde aufwuchs.
Sie verbindet erhalten gebliebene religiöse und andere private Gegenstände, die jüdischen Darmstädtern der Vorkriegszeit gehörten. Ihre Bedeutung und ihre Verwendung kann nachgelesen werden, durch eine Führung werden sie noch lebendiger, z.B.:
- Ein Tisch ist wie zum Sederabend, dem Vorabend zum Pessahfest, gedeckt mit den rituell vorgeschriebenen Gegenständen und Speisen zum Gedenken an dem biblischen Auszug (Exodus) aus Ägypten: ungesäuertes Brot, Bitterkräuter, Nüsse, Radieschen u.a. machen die Nahrung in Notzeiten von Flüchtigen gegenwärtig
- ein alter Überseekoffer ist mit allen nötigsten Dingen gepackt, um für einen plötzlichen, fluchtartigen Aufbruch gerüstet zu sein. Ein solcher Koffer stand bei vielen Juden ständig bereit, auch noch nach dem Krieg, da sie dem „Frieden“ in der jungen BRD nicht trauen konnten.
- die großformatige, bunt bemalte Holztür eines Thora-Schranks wiest darauf hin, dass vermögende und fromme Juden zu Hause einen eigenen Raum für Andacht und Gebet eingerichtet hatten
- Fotos und Dias vermitteln fröhliche und ernste Menschen: Schulklassen, Persönlichkeiten, Familien; nur wenige davon haben den Holocaust überlebt
Ein antikes Möbelstück erinnert an die guten Kontakte zwischen großherzoglicher Familie und der Gemeinde: Ein Sideboard in Form von zwei Thorarollen, einst Ludwig II. zur Hochzeit überreicht, wurde der jüdischen Gemeinde anlässlich der Museumseröffnung zurückgeschenkt.
Im Vorraum zum Museum können Gross-Reproduktionen des sog. „Darmstädter Pessah-Haggadah“ bewundert werden: ein reich bebildertes Vorlesebuch für den Sederabend aus dem 14. Jahrhundert. Daneben finden sich Fundstücke von der Ausgrabung der alten Synagoge, u.a. eine fast verkohlte Thorarolle. Die darauf noch entzifferbare Stelle aus dem 2. Buch Mose lautet:
„…Wenn Feuer ausbricht und Dornen ergreift und es wird ein Garbenhaufen verzehrt oder stehendes Getreide im Feld, so muss es der ersetzen, der das Feuer verursacht hat…“.
Klaus-Peter Reis