Der Schulleiter und aktive Heimatforscher Dr. Manfred Göbel stösst bei seinem Studium historischer Akten von Groß-Zimmern und Dieburg auf eine „erbauliche“ Erzählung in dem Darmstädter Verordnungsblatt von 1851. Die kuriose Geschichte liefert ein kurzes Schlaglicht auf die Verhältnisse um 1740, aber: ist sie auch wahr oder nur frei erfunden? Das Forscherinteresse des Herrn Göbel ist geweckt, dies genauer zu untersuchen.

Kurz der Inhalt der Erzählung aus dem Blatt:

Der Darmstädter Landgraf Ludwig VIII. (ab 1739 in Amt und Würden) ist dem kleinen Kapuzinerkloster in Dieburg wohlgesonnen und unterstützt es gerne mit Naturalien. Als ihm eines Tages ein bislang unbekannter und ungewohnt hagerer Pater vorgestellt wird, lässt er sich dessen Lebensgeschichte erzählen: Bei Nacht und Nebel sei er, Pater Marcellus, zu angeblichem Krankenbesuch aus dem Kloster gelockt und mit Waffengewalt ins preußische Land entführt worden. Dort habe man ihn über 12 Jahre - als einer der sog. „langen Kerls“ - zu Soldatendiensten als Grenadier gezwungen. Neben mancherlei Abenteuer, Kriegsschrecken und Greuel habe die bescheidene Militärkost zu seiner starken Abmagerung geführt. Nach inständigem Bittgesuch und glücklicher Fügung habe ihn der nachfolgende Preußenkönig Friedrich II. persönlich in die Heimat entlassen. Nun sei er wieder - Gott sei Dank - im Kapuzinerkloster zurück. Soweit des Paters Bericht. Den Landgrafen Ludwig, der P. Marcellus am liebsten wieder als Grenadier in seinem Heer gehabt hätte, kann er überreden, ihn als sein besonderer „Pater Grenadier“ im Kloster zu belassen. Dank des fogenden gräflichen Wohlwollens erreicht der schlanke Kerl bald wieder die altbekannte Leibesfülle wieder.

Was findet nun der Geschichtsforscher Göbel heraus ?

Es entspricht der Wahrheit, dass in dem genannten Zeitraum von 1730-1740…

das alte Kapuziner-Kloster (ein Teil des Gebäudes ist heute Teil des Dieburger Gefängnisses) von ca. 1650 bis 1860 bestand und damals stark auf Spenden angewiesen war,

der evangelische Landgraf Ludwig VIII. das katholische und dazu noch „ausländische“ Kloster tatsächlich unterstützte,

rabiate Werber in Mitteleuropa unterwegs waren, die im Auftrag von König Friedrich I. mit z.T. krimineller Energie große, junge Männer zum Kriegsdienst suchten und „fanden“,

dass solche Entführungen also tatsächlich stattgefunden haben.

Sowohl In den hessischen Staatarchiven als auch im Diözesanarchiv Mainz lässt sich allerdings gar nichts über diese spezielle Entführung und ihre Folgen finden. So bleibt nur der Schluss: die Geschichte ist zwar glaubhaft, durchaus realistisch und möglich - aber der Wahrheitsgehalt bleibt weiterhin und wohl für alle Zeit im Dunkel der Zeitgeschichte.

Klaus-Peter Reis