Eigene Geschichten erzählen macht froh
„Wir können keinen Enkel von Australien nach Darmstadt zurückholen, aber wir können dafür sorgen, dass Menschen über solche Sehnsüchte miteinander reden.“
So äußerte sich die AKA-Vorsitzende Heidrun Bleeck 2007 bei der Eröffnung des Erzählcafés. Damit spießte sie einen immer wichtigen Aspekt des Seniorenlebens auf: die Bedrohung durch Einsamkeit. Ähnliche Redebedarfe gibt es bei den Menschen, die den Großteil ihrer Lebenszeit zurückgelegt haben und eine zunächst unüberschaubare Menge Erfahrungen und Erlebnisse in sich tragen. Im besonderen Maße sind die Neu-Ruheständler betroffen, denen die lebendigen Kontakte am Arbeitsplatz fehlen und noch keine Routine für den neuen Tagesrhythmus finden konnten.
Wer erzählt, ist nicht mehr allein, aber außer den Kneipen in der Stadt und auf dem Land gibt es nicht viele Orte, die diesem Bedürfnis abhelfen. Vor kurzem gab es in der Bundesrepublik gerade mal 60 Erzählcafés, meistens im Umfeld der Kirchen. Aloisia Spitaler und Walter Schwebel fanden sich unter dem Dach der AKA bereit - in harmonischer Kooperation mit dem Offenen Haus - für dieses in Darmstadt neue Experiment. Seit September 2007 läuft das Darmstädter Erzählcafé ein-bis zweimal monattlich mit durchschnittlich 15 Teilnehmenden.
Betrachten wir kurz die Voraussetzungen für das Funktionieren dieser Einrichtung.
Es ist von großem Nutzen, wenn sich zu Beginn der Zusammenarbeit ein paar (Spiel-)Regeln erstellen lassen. Auch die Themen, über die erzählt werden soll, werden in der Gruppe besprochen und gemeinsam ausgewählt. Wichtiger als der Kaffee, der in den Pausen genossen wird, ist eine geschmeidige Gesprächsleitung von einem, besser zwei Moderator/innen, die Raum und Zeit für das langsame „Öffnen“ der Erzähler gewährleisten. Als ausgesprochen glücklich erwies sich die Einführung eines kleinen Reise-Nähkästchens als wanderndes Symbol während der Erzählphase: Nur wer das Nähkästchen besitzt hat das ungestörte Rederecht. Ein Gespür für eine situationsgerechte Mischung von Disziplin und Freiheit weckt und fördert bei den Teilnehmenden den Mut und die Inspiration zur bestmöglichen Darbietung ihrer Geschichte. Aus der Erinnerung zu erzählen macht froh. In der Regel erhält die/der Erzähler/in nach seinem Beitrag Applaus und die anerkennende Rückmeldung durch die Moderation. Normalerweise wird danach eine Stärkung des Selbstvertrauens und natürlich eine hohe Zufriedenheit der Erzähler erkennbar. Dass hierbei die Kompetenz des mündigen Bürgers geschult und weiterentwickelt wird ist unbestreitbar.
Mit der Durchführung von öffentlicher „Kleinen Gala“, Gastspielspielen in einem Krankenhaus und einer Gesamtschule sowie mit Livesendungen bei Radio Darmstadt sei an den „kulturellen Wert“ des Erzählcafés erinnert. Man kam leicht vom Reden zum Schreiben und stieß die Tür auf für autobiografische Themen. Zwei Bücher mit je einer Erzählung jedes Teilnehmers sind als konkrete Zeugnisse dieser Arbeit bis 2022 entstanden. Nach der derzeitigen Pause des Erzählcafés ist der Start der zweiten Etappe zu erwarten.
Walter Schwebel