Aka-Tagesausflug nach Lohr am Main unter Leitung von Ingrid Scheffler
Der Weg vom Bahnhof zum sogenannten Schneewittchen-Schloss von Lohr am Main ist nicht gerade romantisch, denn er führt entlang stark befahrener Straßen durch ein Gewerbegebiet. Doch in der Ferne zeichnen sich schon verheißungsvoll die weißen Türme des Zielortes ab. Märchenstimmung kam bei den Aka-Ausflüglern allerdings erst auf, nachdem sie den Park vor dem 700 Jahre alten Schloss erreicht hatten. Heute ist die einst gräfliche Residenz ein Spessart-Museum, in dem Themenausstellungen über Wald, Jagd, Spiegelherstellung, alte Handwerkskunst und das Ritterleben informieren.
Das Aka-Programmheft hatte die Bahnreisenden aus Darmstadt (mit 9-Euro-Ticket) mit der Bezeichnung Schneewittchen-Schloss neugierig gemacht, und sie erfuhren natürlich auch, was es damit auf sich hat. Es waren einmal - anno 1986 - ein paar pfiffge Lohrer Bürger, die beim Gläschen Wein oder Bier einfach mal darauflos fabulierten, warum Schneewittchen eine Lohrerin gewesen sein könnte. Alle im Märchen genannten Besonderheiten wurden so hingebogen, dass sie auf ihre Heimatstadt zutrafen.
Eine richtige Prinzessin lebte dort zwar nie, aber der Schlossbesitzer hatte eine schneewittchenähnliche Tochter, eine gewisse Maria Sophia Katharina Margaretha von Erthal (1730 bis 1795), die vor ihrer bösen Stiefmutter flüchtete. Dass sie nach ihrer etwa 30 Kilometer langen Wanderung bei „kleinen Leuten“, also Zwergen, ankam, wundert nicht. Denn die Menschen waren damals wegen der schlechten Ernährung kleinwüchsig geblieben. Vermutlich hat die Stiefmutter in einen in Lohr fabrizierten Spiegel mit sinniger Aufschrift – etwa: Wer ist die Schönste im ganzen Land? - geblickt. Denn die Stadt war wegen ihrer Spiegelmanufaktur berühmt. Und was den vergifteten Apfel betrifft – Äpfel gibt es in der kleinen Stadt am Main reichlich. Mit Tollkirschen, maßvoll dosiert, soll sich eine totenähnliche Starre erreichen lassen. War das märchenhafte Schneewittchen etwa damit in einen scheintoten Zustand versetzt worden?
Über die örtlichen Zeitungen wurde die Mär vom Lohrer Schneewittchen rasch verbreitet, überregionale Zeitungen griffen die kuriose Geschichte auf, und es dauerte nicht lange, da stand auch schon das erste japanische Fernsehteam vor dem viertürmigen Schloss im belgischen Baustil.
So wurde Lohr weit über Mainfranken hinaus bekannt und berühmt – und das lockt bis heute die hoch willkommenen Touristen an.
Die Darmstädter Aka-Mitglieder lernten das Spessart-Museum vom Keller – Lagerstätte für Wein, aber auch Verließ – bis zum obersten Stock kennen. Im Spiegelkabinett entdeckten sie den so genannten Schneewittchen-Spiegel (alt) und einen Zerrspiegel (neu), in dem man den typischen „Besucher/ Besucherin des 21. Jahrhunderts“ erblickt: eine Person, die ziemlich in die Breite gegangen ist. Kein schmeichelhafter Anblick! Da war es schon charmanter, sich hinter eine jugendlich-schlanke Schneewittchenkulise mit ausgespartem Kopfteil zu stellen und sich verjüngt fotografieren zu lassen.
Die anschließende Einkehr in ein Restaurant inmitten der malerischen Altstadt bot genügend Zeit und Gelegenheit, sich über Schneewittchen und die alten Rittersleut auszutauschen. Ach ja: einen Prinzen, der das Fräulein von Erthal wachgeküsst hätte, hat es nie gegeben. Sie war als Kind fast erblindet und lebte 50 Jahre lang in einer Art Kloster. Immerhin wurde sie, was zu ihrer Zeit nicht selbstverständlich war, 65 Jahre alt.
Petra Neumann-Prystaj