Aka-Vortrag: Kindheit und Jugend zwischen 1950 und 1970 in Darmstadt

Was es bedeutete, in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgewachsen zu sein, das hat Petra Neumann-Prystaj in ihrem neuen Buch anschaulich beschrieben. Zahlreiche Zeitzeugen - Frauen und Männer, alle in Darmstadt aufgewachsen - haben ihr dabei mit ihren Erinnerungen geholfen. Herausgekommen ist ein spannender Bericht über eine Zeit, an die sich viele Aka-Mitglieder sicher noch lebhaft erinnern können.

Die Kriegs- und Nachkriegskinder, geboren in den 1940er und 1950er Jahren, wuchsen unter teilweise katastrophalen Bedingungen auf. Mehr als 5 Millionen deutsche Soldaten waren gestorben, es gab über 2 Millionen zivile Opfer. Die Städte waren zerbombt, Millionen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten mussten untergebracht werden. Viele Menschen hungerten, gingen „hamstern“ und versuchten einfach nur, wieder ins Leben zurückzufinden.

Auch in Darmstadt herrschte Mangel an allem, und auch hier waren es vor allem die Frauen, die das Überleben der Familie managen mussten. Sie bauten Gemüse im Schrebergarten an, organisierten Kohle für den Ofen in der „guten Stube“, tauschten Wertgegenstände gegen Kartoffeln, kochten Obst ein, versuchten für knappes Geld etwas auf den Tisch zu bringen - meistens Suppen, Eier- oder Milchspeisen und natürlich immer wieder Reste, fantasievoll zusammengestellt. Gedankt wurde ihnen das eher selten, denn sie hatten zwar jede Menge Pflichten, aber nur eingeschränkte Rechte. Erst ab 1976 waren sie berechtigt, uneingeschränkt erwerbstätig zu sein. Vorher brauchten sie für vieles die Erlaubnis des Ehemannes, vor allem zur Ausübung eines Berufes. Das führte dazu, dass die meisten Frauen bis zum Schulbeginn des Kindes das Haus hüteten.

Die Kinder wuchsen dennoch nicht unter ständiger Glucken-Beobachtung auf. Ganz im Gegenteil! Die Wohnungen waren klein und der Heiner-Nachwuchs war hauptsächlich: draußen. Es gab viele Geschwister und Freunde, mit denen man Wald und Flur erkundete, völlig unbeaufsichtigt. Gefährliche Mutproben wurden zu Hause verschwiegen, denn sonst hätte es Hiebe gesetzt. Überhaupt wurde damals viel geschlagen. (Erst 2000 wurde diese Art der Bestrafung endgültig verboten). Ob zuhause die Väter diese Aufgabe übernahmen, teils auch mit Gürteln und anderen Werkzeugen, oder in der Schule die Lehrer „Kopfnüsse“ verteilten bzw. die Kinder (meist waren es Jungen) übers Knie legten: Die Prügelstrafe erfreute sich großer Beliebtheit.

Nach und nach begann auch in Darmstadt der Wiederaufbau der zerstörten Stadt. 3 Millionen Schutt mussten zunächst beseitigt werden, ehe die Häuser Gestalt annahmen, die so dringend gebraucht wurden, wie man der Tageszeitung entnehmen konnte: Dort gab es regelmäßig eine ganze Seite mit Verlobungsanzeigen - junge Paare, die heiraten wollten, aber natürlich keinerlei Liebesleben vor der Ehe haben durften.

1951 erblickte dann der 100.000 Darmstädter Bürger das Licht der Welt in der Waldkolonie. Der kleine Wilfried wurde von der Stadt fürstlich beschenkt. Neben der Babyausstattung gab es - sehr weitsichtig gedacht - einen Rasierapparat. Aber natürlich auch durchaus realistische Geschenke wie einen Kinderwagen und - Überraschung - für die Eltern eine neue Wohnung.

Im gleichen Jahr wurde auch erstmals das von Anfang an beliebte Heinerfest gefeiert, und das traditionelle Feuerwerk am Montagabend war eine Art Startschuss in die neue Zeit. Und die hieß: Wirtschaftswunder. In Darmstadt machte sie sich 1953 am Weißen Turm bemerkbar, und zwar heftig: der „Kaufhof“ öffnete seine Wunderwelt. Über 1000 Neugierige waren gekommen, es gab einen Schlaganfall und diverse gebrochene Glieder im Gedränge. Die fünf Eingangstüren mussten vorübergehend wegen Überfüllung des Konsumtempels bald geschlossen werden. Aber das hielt niemanden davon ab, die größte Attraktion von allen auszuprobieren: die Rolltreppe.

Es waren Aufbruchzeiten, in denen sich vieles änderte, denn auf die „Bleierne Zeit“ mit Not, Entbehrungen und unsagbarem Leid folgte das schon erwähnte Wirtschaftswunder. Auch davon ist im Buch von Petra Neumann-Prystaj die Rede, und auch die revolutionären 60er Jahre werden angesprochen.

Für alle, die sich an diese aufregenden Zeiten erinnern - aber auch für ihre Kinder und Enkel - sei die Lektüre wärmstens empfohlen. Wer einmal angefangen hat, wird sich wahrscheinlich festlesen. Es war keine „gute alte Zeit“, aber es waren aufregende Jahrzehnte, die uns alle geprägt haben.

Heidrun Bleeck

Das Buch:
Petra Neumann-Prystaj
„Aufgewachsen in den 50er und 60er Jahren“
erschienen im Wartberg Verlag, 14,90 Euro €